Renaissance der Renaissance

Unbekannter Möbeltischler bzw. Holzschnitzer

Kredenzschrank

Flandern, frühes 16. Jh. (?), Korpus 19. Jh.

Eichenholz

180 x 134 x 66 cm

(c) Schloß Wernigerode, Inv.-Nr. Mö 000324

Zu den Ausstattungsstücken der „Roten Henrichskammer“ von Schloß Wernigerode, einem der dem Festsaal benachbarten Repräsentationsräume, zählt ein Kredenzschrank mit bemerkenswert reichen Schnitzarbeiten. Seit einer 1919/20 erfolgten Umgestaltung des Raumes als originaler Bestand nachweisbar, wurde er nach dem Zweiten Weltkrieg Teil des im Schloss eingerichteten „Feudalmuseums“. Nach der Wiedervereinigung an den Erben der Alteigentümer restituiert, ließ ihn dieser 2009 in Amsterdam durch das Auktionshaus Christie‘s versteigern, wo es der Stiftung Schloss Wernigerode mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder gelang, das bedeutende Möbelstück dauerhaft für Schloß Wernigerode zu retten.

Der zweiteilige Schrank steht auf fünf gedrückten Kugelfüßen und wird darüber von vollplastisch geschnitzten Hermenpilastern gegliedert. Die Türfüllungen des Unterbaus zeigen allegorische Darstellungen des Geruchssinns, verkörpert durch eine an einer Blume riechende Frauengestalt, sowie des Sehsinns durch eine weibliche Figur mit Handspiegel. Durch ein ornamentiertes Gesims getrennt, erscheinen auf dem leicht zurückgesetzten Oberteil an den Ecken zwei vollplastische männliche Figuren, während die wiederum von Hermen getrennten Füllungen links und rechts außen die Evangelisten Lukas und Markus sowie in der Mitte eine Allegorie des christlichen Glaubens zeigen. Den Abschluss bildet ein friesartiges Gebälk mit Löwenköpfen, die auch auf den Seitenfeldern sowie dem Zwischengesims mehrfach erscheinen.

Insgesamt vermittelt das Möbel in seiner plastischen Fülle die Ästhetik der Spätrenaissance, wie sie sich insbesondere im flämischen Raum entwickelte und durch Vorlagenblätter und Musterbücher weite Verbreitung fand. Tatsächlich dürfte jedoch der Korpus des Schrankes erst im späten 19. Jahrhundert entstanden sein. Dies entsprach zum einen der ab den 1870er Jahren verstärkt auftretenden Vorliebe für den Renaissancestil, war aber auch der Tatsache geschuldet, dass viele originale Möbel der Renaissance infolge intensiver Nutzung sowie durch Schädlingsbefall oder ungünstige Standortbedingungen nicht als Ganzes überdauerten, sodass nur die wertvollsten Schnitzereien gesondert aufbewahrt und später neu zusammengefügt wurden. Als originales Ausstattungsstück der „Roten Henrichskammer“ kommt dem Kredenzschrank somit in vielfacher Hinsicht eine ganz besondere Bedeutung zu.

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Autor: Ulrich Feldhahn